Wie soll man mit Demenzkranken umgehen?

Demenzstation Krippe

Demenzstation Krippe

Foto Joseph Birrer

Es ist mehr als zehn Jahre her, als ich einen Demenzkranken im Altersheim besuchte. Kein schönes Erlebnis. Die Demenzstation mehr Klapsmühle und Narrenschiff in einem als ein Hort der Pflege für kranke Menschen. Damals nahm ich mir vor, nie wieder einen Fuss in die Demenzabteilung eines Altersheims zu setzen.

Doch das Schicksal wollte es, dass ein naher Verwandter von mir an Demenz erkrankte. Einer von denen, die ihr ganzes Leben lang «gekrüppelt» und «gekrampft» haben, um es zu einem bescheidenen Wohlstand zu bringen. Diesen Wohlstand in seinem letzten Lebensabschnitt, dem sogenannten Lebensabend, mit seiner Frau zusammen zu geniessen, war ihm nicht vergönnt. Die Alzheimer-Krankheit, eine neurodegenerative Erkrankung, die durch zunehmende Demenz gekennzeichnet ist, holte ihn vor ein paar Jahren ein. Sie kam schleichend. Man spürte, dass irgendwas nicht mehr stimmte, doch an Demenz dachte niemand. Aber irgendwann war das Urteil der Fachärzte da. Demenz.

Das Leiden nahm seinen Lauf. Die bis zum heutigen Tag unheilbare Krankheit zerstört ja nicht nur die Lebensqualität des Betroffenen, sondern langfristig auch diejenige seiner ihm nahestehenden Personen, wie zum Beispiel die Ehefrau, die ihn aufopfernd pflegt. Oder seine Kinder. Niemand kann es fassen. Warum ausgerechnet er, der immer anpackte, wo es notwendig war und stets die Hand ausstreckte, wenn jemand Hilfe brauchte?

Man gibt sich anfänglich der trügerischen Hoffnung hin, dass die speziellen Medikamente zumindest den rasenden Prozess der Krankheit verlangsamen und den unausweichlichen Tag des Abschieds in weite Ferne verbannen. Doch dem ist in den meisten Fällen nicht so und irgendwann stossen alle Beteiligten an ihre Grenzen und der Eintritt in ein Pflegeheim wird zur unumstösslichen Gewissheit. Das war auch bei meinem Verwandten nicht anders.

Und so besuchte ich ihn vergangene Woche im Altersheim mit angeschlossener Demenzabteilung in einer Luzerner Gemeinde. Ich hatte mir vorgenommen, ihn ein letztes Mal zu besuchen, um mich von ihm zu verabschieden. Für immer. Denn noch spukten mir die Bilder meines Besuches in einer Demenzabteilung vor über zehn Jahren im Kopfe rum. Ich wollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er mal war. Egoistisch, wie wir Menschen sind, wollte ich in meinem Kopf ein würdevolles Bild in meinen Memory-Ordner ablegen. Ein Bild, das meinen Ansprüchen an Ästhetik entsprechen sollte. Doch ich wurde eines Besseren belehrt. Und mit einer magischen Wirklichkeit konfrontiert.

Kaum hatte ich meinen Fuss über die Türschwelle gesetzt, winkten mir Leute zu, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Sie schlürften an ihren Tischchen einen Kaffee oder gaben sich dem Betrachten der wundervollen Weihnachtsdekorationen hin. Extrovertiert wie ich nun mal bin, winkte ich mit einem freundlichen Lächeln zurück. Und siehe da: alle, aber auch wirklich alle, hatten sofort ebenfalls ein Lächeln im Gesicht. Es wirkte auf mich absolut echt. Authentisch. Ungekünstelt. Kindliche Freude. Augenblicklich fiel mir Bob Marley ein: «Hört die Kinder schreien. Eine Liebe. Ein Herz.»

Dann sah ich meinen Verwandten in Begleitung einer Pflegerin aus dem Abteilungsbüro kommen. Er kam auf uns zu, hatte aber irgendwas anderes im Sinn. Was? Das wissen nur die Götter und er selbst. Ich war in Begleitung seiner Ehefrau und seines Sohnes. Die Pflegerin steuerte ihn sanft, aber gekonnt zu uns und wir nahmen Platz in einer Ecke, die mit gemütlichen Polstermöbeln ausgerüstet war. Er erkannte niemanden von uns, auch nicht seine Ehefrau. Doch es fand trotzdem eine unglaubliche Konversation mit ihm statt.

Die von ihm noch abrufbaren Fragmente aus seinem Langzeitgedächtnis hängen fast ausschliesslich mit seinem Beruf zusammen, den er ein Leben lang ausgeführt hat. Er gibt auf entsprechende Fragen auch Antworten, die meistens um dieses Thema kreisen, auch wenn sie nicht unbedingt den Kern der Sache treffen. Aber schwachsinnig sind sie nie. Doch zehn Sekunden später ist er thematisch schon wieder anderswo angelangt und das, was vorher gesprochen wurde, ist vermutlich weg. Ein Arzt aus dem Luzerner Kantonsspital erklärte dieses Phänomen einmal so: «Stellt Euch eine Scheibe mit Löchern vor, die sich dreht. Durch die Löcher findet diese Scheibe immer wieder Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis. Doch sie dreht sich unaufhörlich weiter und schon ist die Erinnerung wieder weg und wird von einer anderen abgelöst.» Das mag sehr einfach formuliert sein, doch als stimmiges Bild hat sich diese Äusserung bei mir eingeprägt.

Ich kann beim besten Willen nicht mehr sagen, wie’s dazu kam, doch plötzlich erzählte mein Verwandter von seiner Frau, die notabene neben ihm sass, von ihm aber nicht als solche erkannt wurde. Was und mit welcher zärtlichen Innigkeit er aber namentlich von seiner Frau und deren Schönheit sprach, berührte mich tief. Es waren Bilder seiner Frau aus früheren Zeiten, die irgendwo auf dem Memorystick seines Langzeitgedächtnisses noch programmiert und abrufbar sind.

Um dies zu verarbeiten, ging ich auf die Terrasse hinaus, zündete mir gedankenverloren eine Camel an und schaute auf den Park mit der Vogelvoliere und dem Geissen-Gehege hinunter. Doch ich kam gar nicht dazu, meine Gedanken zu sortieren. Schon preschte ein ziemlich alter Mann im Rollstuhl in einem Höllentempo rückwärtsfahrend aus dem Heim Richtung Vogelvoliere, sah mich auf dem Balkon, winkte mir zu und brabbelte irgendwelche Sätze in voller Lautstärke vor sich hin, die ich zwar nicht verstand, die ihm aber scheinbar Freude bereiteten. Ähnlich einer Szene aus einem Monty-Python-Film. Während ich mir noch Gedanken machte, wie Monty ohne Sicht nach hinten die Kurve zur Voliere schaffen würde und ob ich nicht besser eine Pflegerin verständigen sollte, war er bereits am Ziel, nämlich bei den kleinen Geissen neben der Vogelvoliere, angelangt.

Ich ging wieder rein, setzte mich auf den Polsterstuhl und beteiligte mich erneut am Gespräch, das gerade stattfand und durch die sich «drehende Scheibe» eine neue Wendung genommen hatte. Egal was, es spielt gar keine Rolle.

Innert 30 Minuten habe ich gelernt, dass sich mein Verwandter gedanklich ausschliesslich in seiner eigenen Welt, seinem eigenen Kosmos bewegt, zu dem uns der Zutritt für immer verwehrt bleibt. Ich habe festgestellt, dass er sich darin wohl fühlt und dass dies zu respektieren ist. Er spinnt nicht und in seiner Welt ist auch eine berührende Zärtlichkeit vorhanden.

Früher hiess es, solche Leute wie mein Verwandter seien in die Kindheit zurückgefallen. Doch das trifft den Nagel nur teilweise auf den Kopf. Denn sein Erinnerungsschatz bildet sich zunehmend zurück, wird immer kleiner, während es beim Kind umgekehrt ist. Was einen Demenzkranken allerdings mit dem Verhalten eines Kindes verbindet, sind nicht nur die Pampers, sondern auch die Verletzlichkeit. Und eine berührende Menschlichkeit, die sehr viel Kindliches, aber nichts Kindisches an sich hat. Hört die Kinder schreien. Eine Liebe. Ein Herz.

Last but not least sei erwähnt, dass sich in den zehn Jahren seit meinem ersten Besuch in einer Demenzabteilung unglaublich Vieles positiv verändert hat. Angefangen von den Räumlichkeiten bis hin zum professionellen Personal, das ebenfalls eine bewundernswerte Menschlichkeit ausstrahlt. Angst vor einer nach neuestem Erkenntnisstand geführten Demenzabteilung braucht heute niemand mehr zu haben. Auch nicht vor den Demenz-Patienten. Es passieren immer wieder komische Momente, manchmal freiwillig, manchmal unfreiwillig. Lacht mit ihnen, aber lacht nicht über sie.

Um zum Schluss zu kommen: Nein, ich will meinen Verwandten nicht mehr so sehen wie ich ihn sehen will, sondern so, wie er ist. Ein unglaublich liebenswerter Mensch in seiner ureigenen Welt, den ich noch oft besuchen werde.

Quelle: LUZART MEDIEN / JB

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2.6.2019

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